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12. Apr. 2010 

(Rede beim Öffentlichem Kolloquium „Wege zur Sicherung der Kulturfinanzierung“ am 12. April 2010 in Chemnitz)

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Frau Bürgermeisterin, lieber Herr Patt, lieber Herr Quast,

Der Rat der Ratten

Die Mäuse in der Stadt liebten die Scheune des Bürgermeisters Semmelreich sehr, denn dort fanden sie Körner, Mehl und Zucker in Hülle und Fülle. Auch war die Backstube nicht weit von der Scheune entfernt, und die fleißigen Mäuschen hatten sich so manchen Zugang zu diesem verlockenden Raum genagt.

Der Bürgermeister Semmelreich hingegen liebte seine kleinen, freßfröhlichen Genossen gar nicht so sehr. Um seine anhänglichen Plagegeister loszuwerden, schaffte er sich zwei Kämmerer an. Mit wahrer Leidenschaft jagten sie die Kleinen. Viele von ihnen fanden den Tod, und die meisten, die sich retten konnten, verließen schleunigst Semmelreichs Brotparadies.

Einige Mäuse aber wollten das Körner- und Kuchenreich nicht kampflos aufgeben. Sie versteckten sich gut und ersannen immer wieder neue Tricks, um an die Nahrung heranzukommen.

Einmal hatten freche Buben die beiden Katzen eingefangen, und die Mäuse konnten sich wieder frei bewegen. Sie erkannten die günstige Gelegenheit und nutzten die Zeit. Eine Versammlung wurde veranstaltet, auf der über die beiden grimmigen Jäger beraten werden sollte.

Das älteste Mäuschen stellte sich auf seine Hinterbeine und sprach in ernstem Ton: “Die beiden Katzen vermauern uns unser sonst so süßes Leben. Laßt uns gründlich überlegen, wie wir uns von ihnen befreien oder wenigstens die Gefahr vermindern können.”

Alle Mäuse dachten angestrengt nach und zergrübelten sich ihr Mäusehirn. Sie machten vielerlei Vorschläge und verwarfen sie dann nach reiflicher Prüfung doch wieder. Lange hockten sie so beisammen.

Da sprang ein junger Mäuserich auf und trompetete mit seinem Piepsstimmchen: “Ich hab’s, ich weiß, wie wir mit diesen gemeinen Leisetretern fertig werden.”

Gespannt schauten alle auf. “Es ist ganz einfach! Denkt an den Hund des Bürgermeisters, der ein Halsband mit Schellen trägt. Wir binden den beiden Katzen eine Glocke um den Hals, dann können sie uns nicht mehr überraschen, und wir hören immer, wann sie nahen und können uns rechtzeitig in Sicherheit bringen.”

Brausender Beifall brach los, und mit stürmischer Begeisterung wurde der Vorschlag angenommen. Sofort wurden zwei mutige Mäuschen in den Keller geschickt, denn man hatte dort einmal eine Schachtel entdeckt, in der der Bürgermeister Semmelreich ein altes Halsband von seinem Hund aufbewahrte. Von diesem sollten die beiden wackeren Mäuse zwei Glöckchen abnagen und herbeibringen. Ein dritter tapferer Mäuserich bot freiwillig an, aus der Backstube zwei Bänder zu besorgen.

Während die drei Helden unterwegs waren, feierten die anderen Mäuse den klugen Mäuseknirps. Sie konnten ihn nicht genug loben, und bald waren sich alle darin einig, daß es nie zuvor einen so weisen Mäuserich gegeben hatte, und daß man ihn mit hohen Ehren auszeichnen müßte.

Gerade hatte man beschlossen, ihm den großen Brezel-Orden zu verleihen, da hörte man ein Gebimmel, und die beiden Mäuse zerrten die Glocken herbei. Gleich darauf kam auch die dritte Maus zurück und zog einen langen Strick hinter sich her. “Der genügt für beide”, meinte sie und zerbiß ihn in der Mitte.

Der Mäuseälteste hatte die ganze Zeit über geschwiegen und düster vor sich hingestarrt. Er hatte in seinem Leben schon so viele böse Erfahrungen gemacht, daß er ein mißtrauischer, verschlossener Tropf geworden war.

“Klug ist unser kleiner Held”, raunzte er, “das ist nicht zu bezweifeln. Er ist der weiseste von uns allen und wird uns bestimmt jetzt noch verraten, wie er diese Warnsignale den beiden großen Jägern um den Hals bindet.”

“Wieso ich?” prustete der kleine Wicht aufgebracht. “Ich hatte bereits eine Idee. jetzt seid ihr an der Reihe. Strengt euch auch einmal an.”

Da erhob sich ein wildes Gezeter, und alle schrien durcheinander: “Ich habe ein Glöckchen besorgt!” – “Ich auch!” – “Ich habe den Strick gemopst.” – “Ich bin doch nicht lebensmüde!” – “Ich auch nicht.” – “Das ist zu gefährlich!” “Viel zu gefährlich!”

Der kleine Prahlhans zog sich aber verlegen in seinen Schlupfwinkel zurück.
“Paßt auf, die Katzen!” rief auf einmal einer, und die Versammlung stob auseinander. “Leeres Gerede”, brummte der Mäuseälteste und zog ein Mäusekind am Schwanz in sein Nest, das in der Aufregung sein Loch nicht finden konnte und einer Katze fast in die Fänge gelaufen wäre, “was nützen die klügsten Worte, wenn man sie nicht in die Tat umsetzen kann.”

Heute (12. April 2010) oder morgen (da gibt es verschiedene Angaben) vor 315 Jahren starb der französische Dichter Jean de La Fontaine in Paris, ein bedächtiger Literat, der es vor allem verstand, Gönner und Mäzene zu finden, um sich der Kunst widmen zu können. So einen Fachmann könnten wir gut brauchen.

Ich widme meine Ausführungen insbesondere unserer Kulturbürgermeisterin und unserer Oberbürgermeisterin, die als ehemalige Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst und ehemalige Kulturbürgermeisterin auch eine Hoffnung in den anstehenden Etat-Planungen für den nächsten Haushalt ist.

Gewöhnlich warten wir ab, daß die Verwaltung den neuen Haushalt im Stadtrat und der Bürgerschaft vorlegt. Dann nehmen wir mit Schrecken die vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen zur Kenntnis. Erheben notwendigenfalls das „Große Kulturgeschrei“ und freuen uns, wenn in leidenschaftlichen und manchmal verzweifelten, gelegentlich sogar hysterischen Debatten mit Stadträten und Fraktionen Korrekturen zustande kommen. Manchmal Korrekturen, die vielleicht als „Spielmaterial“ schon vorgehalten wurden.

Dieser Vorgang erscheint mir außerordentlich unmündig und unbefriedigend. Ich finde, gleichzeitig zu den Überlegungen der Finanzfachleute und –verantwortlichen sollten sich verantwortungsbewußt auch Bürgerinnen und Bürger Gedanken über ihren Stadthaushalt und ihre Lebensprioritäten machen. Ehrliche Partizipation verlangt auch eine unaufgeregte Gleichzeitigkeit. Deshalb haben wir Sie heute – zu Beginn des Monats, indem die ersten Haushaltsklausuren für 2011 stattfinden – eingeladen, um über die Finanzierung von Schutz und Ausbau von Kultur miteinander zu sprechen. Ich danke insbesondere Frau Lüth für die Unterstützung.

Hilmar Hoffmann, bei dem ich viel über Kulturpolitik gelernt habe und dessen erstes Innenstadt-Straßen-Kunst-Programm in Frankfurt am Main ich gestalten durfte, hat einmal die Aufgaben freiheitlicher und selbständiger Kulturpolitik programmatisch formuliert, die ich in folgende Bereiche subsummieren möchte:

  1. Kulturpolitik einer Großstadt muß in Traditionen verfestigtes Kategoriendenken aufsprengen, weil Kultur nicht losgelöst von anderen Lebensbereichen begriffen und nur entsprechend organisiert werden kann, muß Migration unterstützen, Segregation verhindern,
  2. sie muß Prioritäten überdenken, Denkanstöße und Aktivierungshilfen geben (auch intern. Z.B. vertikale Leitungsstrukturen einfordern),
  3. sie muß Kooperationen und Gesamtzusammenhänge provozieren,
  4. sie muß extensive und langfristige kulturelle Bildungsplanung, schulisch und außerschulisch, einfordern und unterstützen,
  5. sie muß lebendige Popularisierung und Besucherzuwachs verlangen und fördern,
  6. sie muß bürokratische Hürden aus dem Wege räumen
  7. und natürlich monetäre Fürsorge leisten.
  8. Soll das nicht unterschlagen, daß Kulturpolitik „permanente Ideenlosigkeit, Trägheit oder notorische Unlust zur Kooperation oder subsidiäre Legitimation bei überlappenden Themenkreisen wild gegeneinander konkurrierender Einrichtungen“ kritisch befragen muß.

Bevor ich diese Kategorien auf Chemnitz übertrage, gestatten Sie mir bitte noch ein paar Vorbemerkungen.

Chemnitz besetzt Platz 29 unter den 38 deutschen Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern. Chemnitz war die 19. deutsche Großstadt als sie im Jahr 1883 die 100.000 Einwohner Grenze überschritt und gerade erst neun Jahre kreisfrei.

Chemnitz  galt 1900 mit der annähernd vergleichbaren Einwohnerzahl zu heute als die reichste Stadt Deutschlands und gleichzeitig als eine ihrer schmutzigsten. Und der Reichtum war auch sehr ungleich verteilt.

Chemnitz begann nach dem zweiten Weltkrieg mit annähernd vergleichbarer Einwohnerzahl zu heute und konnte den Höchststand von 1930 auch als Bezirksstadt Karl-Marx-Stadt nie wieder erreichen. Die Einwohnerzahlen gehen seit 1983 – 1983 – kontinuierlich zurück. Allerdings korrigiert die Einwohnerzahl 2010 die 2006 aufgestellten Negativprognosen der Bertelsmann-Stiftung um 10.000 Zuzüge, da die Zuwanderung stärker ausfällt als vorausgesagt. Außerdem sind die Schrumpfungen in den Großstädten Salzgitter, Gelsenkirchen und Gera höher. Warum also nicht optimistisch sein ? Abgesehen davon, daß Schrumpfung nicht von vorn herein angsterregend sein muß.

Die Stadt zählte bis 1800 650 Jahre lang unter 10.000 Einwohner, mußte im dreißigjährigen Krieg sogar die Halbierung der Einwohnerzahl hinnehmen, und war mit Bleichprivileg im Mittelalter und industrieller Keimzelle 1798 (bei 10.000 Einwohnern !) in Chemnitz –Harthau Ausgangspunkt der industriellen Revolution in Sachsen, was sogar den Geheimrat Goethe am 28. September 1810 nach Harthau brachte.

Die Wendepunkte deutscher Geschichte in den letzten 160 Jahren bedeuten natürlich auch die Bewährungsproben deutscher Kommunen: 1848, 1871, 1918, 1933, 1953, 1990. Chemnitz war Nutznießer der Gründerjahre, kam gut durch die Weimarer Republik, war Rüstungszentrum und nationalsozialistisch im 3.Reich – mit mehr Tätern als Widerständlern und mußte zum Ende des Kriegs entsprechend mit großem Leid und großer Zerstörung bezahlen -, fand nicht zu ansprechender Urbanität während der DDR zurück und war neben Berlin 1990 vielleicht die einzige deutsche Stadt, die ihr Zentrum neu bauen konnte und mußte.

In dieser Stadt wohnen 30.000 Menschen unter 18 Jahren und 80.000 über 60 Jahre, das sind 38% der Wahlberechtigten. Das definiert mehrere Aufgaben: 1. Eine familienfreudige Politik; 2. Förderung der jungen Menschen; 3. Eine Politik für weitaus mehr als 50% der Stadtbevölkerung mit verfügbarer Zeit.

Deshalb braucht es aber keine Idealisierung von Kinder- und Jugendprojekten. Kritische Begleitung ist besser als unverbindliches über den Kopf-Streicheln.

Deshalb ist es aber z.B. richtig, Kindern und Jugendlichen freien Zugang zu Kultureinrichtungen zu verschaffen und diesen Zugang als Teil kultureller Bildung zu verstehen, die so wichtig ist wie Schulbildung, die auch ohne Eintritt sein soll.

Über 8 Milliarden Euro und damit weniger als 0,4 % des Brutto-Sozial-Produktes bzw 1,75 % des Gesamtetats geben die öffentlichen Hände in Deutschland für Kultur aus, im Durchschnitt leisten die Kommunen zwischen 200.000 und 500.000 Einwohnern 112,35 € im Jahr/pro Bürgerin/Bürger. In Chemnitz sind es 98,30 €. Mit Platz 9 unter 25 befindet sich Chemnitz damit überdurchschnittlich in der ersten Hälfte. Aber in Konkurrenz zu Leipzig (182,38 €) und Dresden (120,10 €). (Wir sollten in Chemnitz nie vergessen, daß wir uns in einer Konkurrenz zu Dresden und Leipzig befinden und uns auch als einen sächsischen Magnet zum Zuzug verstehen müssen.) Die Chemnitzer Kulturausgaben sind ungefähr gleichauf mit Essen und vor Köln. Auf diese Leistung kann Chemnitz stolz sein. Es ist allerdings nicht überraschend, daß Halle, Magdeburg und Erfurt noch mehr als Chemnitz pro Jahr pro Kopf für Kultur ausgeben.

Man kann sagen, die Mittelzuweisungen waren in der Bundesrepublik in den letzten zehn Jahren verhältnismäßig konstant, allerdings wurden auch immer mehr Aufgaben in die Kulturressorts übernommen ohne die Mittel aufzustocken.

Sachsen kann sich im Bundesvergleich nach den Ausgaben des Bundes, nach NRW, Bayern und Baden-Württemberg vor Hessen und Niedersachsen mit seinen Kulturausgaben auf Platz 5 sehen lassen und leistet pro Kopf mit 155,40 € mehr als Berlin, Bremen oder Hamburg. Der Landesanteil an den Kulturausgaben in Sachsen hat zugenommen, der der Kommunen (ca 44%) abgenommen. Hier ist aber eine Warnung vor vordergründigen Vergleichen nötig: In Nordrheinwestfalen beträgt der Anteil der Kommunen 81%. Das hat aber mit einer grundsätzlich anderen Verteilungsweise der Mittel an die Kommunen in NRW zu tun.

Und Sachsen kennt das Verfassungsgebot Artikel 1 und besonders 11: Die Teilnahme des gesamten Volkes „an der Kultur in ihrer Vielfalt“ ist zu ermöglichen. Das ist vorbildhaft, wenn es durchgesetzt wird.

Aber apropos NRW. In Nordrheinwestfalen haben 1/3 der Kommunen – ca 100 mit der Stadt Recklinghausen seit Jahren an der Spitze – Nothaushalte und befinden sich im Ausgleichsstock. Das bedeutet, sie dürfen nur die gesetzlich verpflichteten und unaufschiebbaren Kosten bezahlen, für Alles Andere benötigen sie die Genehmigung der Aufsichtsbehörden. Für die meisten dieser Städte ist eine Schuldenbewältigung aus eigener Kraft nicht mehr zu erwarten und ihre Schulden werden gehandelt wie faule Kredite von amerikanischen Eigenheimen mit dem Unterschied, daß selbstverständlich erwartet wird, daß irgendwann der Steuerzahler für sie eintritt.

Pikanterweise, wird dem Ost-West-Ausgleich ein Gutteil der Schulden angelastet, die westdeutschen Städte stünden wegen des Ausgleichs jetzt sehr viel schlechter da als ostdeutsche Städte. Vielleicht kommt es ja mal zur Abgabe West.

Was bedeutet dieser Überblick ? 1. Wir müssen Chemnitz realistisch einschätzen und einordnen, sonst finden wir auch keine realistischen Lösungen; 2. In Chemnitz lebt es sich sehr viel besser, als häufig behauptet wird; 3. Stellt sich die Frage, sind diese Überlegungen wirklich wesentlich für eine „Kulturstadt“, die Stadt der Moderne ?

Nein. Denn Kultur ist das Spezifische des Menschseins, seine Gestaltung der naturgegebenen Voraussetzungen hin zu Sprache, Kleidung, Ernährung, Hygiene, Arbeit, Wohnen, Verkehr, Bildung, Medizin, Heimatpflege, Politik, Religion und Kunst usw.

Kultur hat also erst einmal mit Luxus, Besonderem, Zusätzlichem oder Freiwilligem überhaupt nichts zu tun. Aber zwischen industrieller Ernährung, Versorgung vom Markt, vernünftiger Ernährung und Genußsucht z.B. ist natürlich ein Unterschied.

Keine Kultur haben geht nicht – auch nicht bei Finanzpolitikern, mit denen ich mich viel lieber streiten würde als unter uns. Aber leider habe ich die Erfahrung gemacht, daß Finanzpolitiker flüchten, sich einschließen und Komplexe bekommen, wenn man mit ihnen über Kultur sprechen will. Nicht einmal verführen lassen sie sich, wie wir es am 11.Januar versucht haben. Also bitte ich die anwesenden Kulturpolitiker, die Finanzpolitiker bei jeder Gelegenheit sanft zu stellen. –

Keine Kultur haben geht nicht. Schlechte Kultur haben geht sehr wohl: Gewalt- und Machtmißbrauch, Instrumentalisierung des Menschen als Opfer oder Konsument, Schnäppchenkultur, Instrumentalisierung der Sprache und Kunst für Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus, Instrumentalisierung der Medien und der Kunst zur Verdummung und falschen Beruhigung usw.

„Wir sind Kultur, wir bestehen aus Kultur und wir überleben durch Kultur. Dazu gibt es keine Alternative“.

„Wenn Kultur generell die Suche nach Möglichkeiten ist, mit der Welt umzugehen, dann ist die Kunst Suche nach eigenem Ausdruck für die Deutung der Welt. Sobald individuelle Ergebnisse solcher Suche sich so weit durchsetzen, dass sie zu allgemeiner Anerkennung gelangen, also Kultur werden im Sinne von gemeinschaftlicher Vereinbarung beginnt das individuelle Suchen von neuem, so dass lebendige Kultur ein permanenter Prozeß ist, der sich speist aus dem Überholen einer Lebenstechnik durch eine bessere oder zumindest andere und aus der Behauptung des eigenen Ausdrucks gegen den allgemeinen, den man auch Tradition nennt“.

„Kultur macht das Leben nicht bequem, sondern unruhig. Schönheit ist ebenso beunruhigend wie das Grauen“.

„Kultur verweist auf den prozessualen Charakter des Lebens und braucht zugleich Individuen, die dazu fähig sind, in ihr keinen ewigen Wert, sondern den Dialog zu entdecken. Wer sich auf solche Dialoge einlassen will, bedarf dazu einiger kultureller Voraussetzungen. Deshalb ist Kultur mit Bildung auf Gedeih und Verderb verschwistert“. (Gert Heidenreich)

Wenn wir von Kulturpolitik reden, reden wir von Lebensqualität, von gesellschaftlichem Frieden und Lebenshilfe, von Chancen und von verpassten Chancen. Und die Verständigung der Generationen wäre fruchtbarer, wenn die Neugierde auf die jeweilige Kultur der anderen Generation größer wäre. Für diese Neugierde haben die Älteren die Bringeschuld und Vorbild- Aufgabe.

Aber zuerst einmal Qualität. Der Mut zur Qualitätsdiskussion, ein streitender und kein geduldeter Pluralismus ist die wesentliche Grundlage unserer Auseinandersetzungen und Lösungsfindungen. Keine „sozialistische Hau-Ruck-Kultur“, keine „Basta-Demokratie“ und keine „Elite-Kultur“ sondern eine anstrengende Streitkultur. Wer weniger Streit und Schluß mit sogenanntem „Parteiengezänk“ fordert, hat das Totalitäre in sich noch nicht zivilisiert. Statt weniger Streit – vielleicht besserer Streit um das Wesentliche. Wer sagt, woran wir sparen sollen, muß offenen Visiers sagen, welch eine Qualität von Zusammenleben ihm vorschwebt und welche er vertreten kann und will.

Radikalität, Widerspruchsgeist, Zweifel und Gedanklichkeit ersetzen kein Handwerk, aber ohne sie taugt Handwerk nur zum Kunstgewerbe.

Warum leben wir in Chemnitz ? Weil wir friedlich, mit dem Nötigen ausgestattet unser Leben gestalten wollen ? Das ist die Grundversorgung. Das können viele Städte bieten. Lebensqualität einer Stadt beginnt doch erst dort, wo sie Unverwechselbares für unsere Lebensfreude und unseren Ehrgeiz zu bieten hat. Und da ist Chemnitz nicht schlecht aufgestellt.

Unsere Bühnen und unsere Kunstmuseen sowie die Neue Sächsische Galerie besitzen ein erkennbares Profil.

Die Industriekultur – mit Industriemuseum, Eisenbahnmuseum, Museum sächsischer Fahrzeuge, Straßenbahnmuseum, Deutschem SPIELEmuseum und richtigem Verständnis des Schloßbergmuseums, Marianne-Brandt-Gesellschaft und vielleicht auch mit dem Schulmuseums inclusive diverser Spezialsammlungen – wird zwar oft genug richtig beschworen, aber ist meiner Einschätzung nach über Chemnitz hinaus noch kein populäres Alleinstellungsmerkmal.

Ganz im Gegensatz zum Naturkundemuseum mit dem Versteinerten Wald, dem das Profil sehr gelungen ist und das andere naturbezogene kulturelle Einrichtungen mitziehen sollte.

DAStietz macht uns so schnell niemand nach. Unsere Stadtbibliothek gehört unter den Bibliotheken zu einer bewunderten Einrichtung. Die Nachbarschaft eigenwilliger Partner mit eigenwilligem Geschäftsführer tut dem Gesamtereignis gut. Hier wünschen wir uns Fortschreibungen und ich bedaure, daß hier nicht auch das Kulturbüro der Stadt zu Hause ist.

Unsere Festivals sind alle noch ausbauwürdig. Angefangen beim Schlingel-Filmfestival, das es ganzjährig zu bewerben gilt, genauso wie Schultheaterwochen, Tage der jüdischen Kultur und interkulturelle Wochen, die einen steten Erfolgskurs vorweisen können. Die Begegnungen scheinen mir sich noch immer neu beweisen zu müssen.

Im Bereich der Soziokultur mit den Flaggschiffen Kraftwerk und weltecho gefolgt von der Lila Villa, Arthur und vielen anderen Einrichtungen gelingt uns das Kenntlichmachen über die Stadt hinaus auch nur bedingt. Nun räumen Viele ein, das sei auch nicht Aufgabe der Soziokultur. Vielleicht nicht einzelner Einrichtungen. Aber ich halte es sehr wohl für eine Aufgabe Chemnitzer Kulturpolitik, auch eine weithin erkennbare „Stadt der Soziokultur“ sein zu wollen.

Folgt noch der ganze Bereich privat getragener Einrichtungen und Initiativen. Von Kabarett und Theater über Musik, Bildende Kunst, Literatur bis zum Experimentellen Karee, bis zu Film und Neuen Medien. Die finanzielle Situation wird sicher dazu führen, jede Unterstützung auf den Prüfstand zu stellen und zu fragen, wie offen die Angebote sind, wie wenig abgekapselt und eigenbrötlerisch und wie sehr integraler Teil des Ganzen. Und: Das Wesen eines Versuchs oder eines Experimentes ist auch, daß es eines Tages zum Abschluß kommt.

Aber: „Die Kultur einer Stadt ist die Summe nicht nur aller institutionellen Angebote, sondern auch aller in der Kultur tätigen und kreativen Individuen“.

Ich halte auch für außerordentlich wichtig, festzustellen, inwieweit Vereine und Einrichtungen selbst in der Lage sind, aus Verpflichtung gegenüber ihrer Stadt Projekte und Veranstaltungen zu finanzieren. Dort, wo Kommerz im Spiel oder ausreichendes Kapital vorhanden ist. Die Villa Esche z.B. hat starke Partner, ein Jugendzentrum eher nicht. Das Stadtfest z.B. muß auch ein Kulturprogramm leisten können, ohne Anderen Geld wegzunehmen.

In unserer Stadt sind das Ehrenamt und das bürgerschaftliche Engagement noch entwicklungsfähig. Und das geschieht nicht durch das Gewähren von Vorteilen in kleiner Münze (ich spreche nicht von Kosten-Übernahme, sondern von kleinen Vorteilen) sondern durch Unterstützung der Würde und des Stolzes, etwas für die Stadt auf Augenhöhe mit der bezahlten Verwaltung einbringen zu können. Vielleicht hat einer zu Hause nur Brot und Margarine, aber im Ehrenamt ist er kein Hartz-IV-Gestempelter.

So sollte vielleicht keine Einrichtung, die auf Nachhaltigkeit aus ist, es versäumen, bürgerschaftlichen Rückhalt durch Fördervereine zu suchen. Fördervereine und Kooperationen sind zu Recht Beurteilungskriterien für öffentliche Unterstützung.

Chemnitz ist eine Musik-Stadt. Bewundernswert wie die Städtische Musikschule quasi über Nacht aus dem Tal des Jammerns heraus kam und ihren Platz wieder selbstbewußt einnimmt. Im Bereich der Musik gehört die Sächsische Mozartgesellschaft mit Sitz in Chemnitz zu den sächsischen Leuchttürmen.

Aber apropos Film. Addi Jacobi könnte beschreiben, wie hier auf dem Gelände nur zwei Jahre nach den ersten Filmvorführungen in Deutschland noch im 19.Jahrhundert Filmvorführungen stattgefunden haben und welche Bedeutung erst Chemnitz dann Karl-Marx-Stadt als Filmstadt hatten. Davon ist uns Einiges schmerzhaft verloren gegangen. Das Schlingel-Film-Festival ist eine neue Erfolgsgeschichte. Aber die Filmwerkstatt mit dem Clubkino Siegmar verdiente sehr viel mehr Unterstützung. Wenn es heute wieder junge vielversprechende Filmleute aus Chemnitz gibt, die es sogar bis ins Begleitprogramm der Berlinale schaffen, dann hatte die Filmwerkstatt wesentlichen Teil daran. Übrigens ist Sachsen im Bereich der Filmförderung im Bundesvergleich außerordentlich schlecht aufgestellt.

Dringend geboten ist es auch die sogenannten Neuen Medien in den Fokus der Entwicklung zu stellen. Der Maler Schmidt-Rottluff bildete mit Altersgenossen eine Gruppe avantgardistischer „moderner“ Künstler. Wohnhaus und Mühle in Rottluff bieten sich an, einer neuen Moderne – der computergestützten Moderne – Raum zu verschaffen.

Mit Sehenswürdigkeiten ist es in Chemnitz nicht gut bestellt, vielleicht ist es auch noch nicht gelungen neue Architektur im Chemnitz-Verständnis hinreichend populär bewußt zu machen.

Natürlich kommt auch den Religionsgemeinschaften in Chemnitz eine große Rolle zu. Wir sind da mit einer selbstbewußten evangelischen Kirche und der neuen jüdischen Gemeinde gut aufgestellt. Die katholische Kirche zeigt vornehme Zurückhaltung. Allerdings wird der größten Gruppe, den Religionslosen – sie sind übrigens auch in der gesamten Bundesrepublik die größte Gruppe, vor den Evangelischen und vor den Katholiken – wenig kulturelle Aufmerksamkeit gezeigt, den Kirchenfernen und Gottlosen.

Gerade die agnostische Geisteshaltung, die bei ihren bewußten Vertretern auch religiös verstanden werden kann unter Einschluß der monotheistischen Erfahrungen und der christlichen Geschichte Europas braucht Orientierungen und Auseinandersetzungen. Selbstverständlich wird vom christlichen Menschenbild gesprochen, selbstverständlicher sollte das humanistische Menschenbild sein.

Aber das müßten ja keine Widersprüche sein. Denn natürlich sind Kultur und Kunst auch immer Lebenshilfe. Ganz nebenbei – in der Jugend braucht man sie vielleicht konkreter, aber im Alter braucht man sie besonders. Das Alter ist die Zeit, wo sich das Leben noch einmal organisiert, wo die Träume der realistischen Einschätzung weichen, wo die Endlichkeit des Lebens begriffen werden kann und wo die verdrängten Traumata aufbrechen. Gerade dann (und ich erinnere an die 38%) sind Kultur und Kunst lebenswichtig.

Wir leben nicht um zu arbeiten – auch wenn das immer wieder so beschrieben wird, – wir arbeiten um zu leben. Im günstigsten Fall ist Arbeit Teil unseres selbstgestalteten Lebens. Und der andere Teil ist den meisten Menschen wichtiger: Familie, Freizeit, Bildung, Kultur und Kunst. Die Lebensqualität unserer Städte wird durch ihre Kultur deutlicher kenntlich gemacht als durch ihre Infrastruktur. Arbeit ist Fundament, leider vielfach unsicher und unverläßlich – also prekär -, Kultur prägt unseren Alltag, Kultur macht auch Arbeit verstehbar und beurteilbar.

Das Wesen unserer Schnäppchenwelt scheint aus dem Profit auf Kosten derer, die man in den Bankrott treibt, zu bestehen, oder: Bezahle meine Boni mit Deinen Konkursen. Oder: kaufe meine Tulpenzwiebel, morgen ist sie ein Vielfaches wert. Am 7.Februar 1637 platzte die erste uns bekannte Spekulationsblase in Holland, wo das Tulpenfieber ausgebrochen war.

Die Spekulationsblase in der wir uns zur Zeit befinden, ist noch nicht einmal geplatzt. Der Stern dieser Woche: berichtet, der Banker David Tepper habe 2009 4 Milliarden Dollar „verdient“. Er hatte auf die Rettung der großen US-Banken gewettet.Und die Deutsche Bank, heißt es, verdiene an der Spekulation auf den Staatsbankrott Griechenlands. Und ich kann mir vorstellen, noch zu meiner Lebenszeit einen Staatsbankrott zu erleben, von dem wir immer gedacht haben, das geht gar nicht. Man muß sich nur einmal informieren, wie es heute schon in Island aussieht.

Wer die Globalisierung bedauert, hält auf. Es ist müßig festzustellen, daß es globale Ordnungen auch schon früher im Ansatz gegeben hat, es ist müßig gegen die globalen Kulturen a la Coca Cola und McDonald zu wettern und die Möglichkeiten des internet nur zögernd zu akzeptieren. Die Verfügbarkeit so vieler Informationen und Kommunikationen braucht nur eine Kulturflatrate und neue Kritikfähigkeit, ist aber eine globale Errungenschaft.

Aber die Globalisierung fordert umso stärker die Pflege kultureller Eigenwilligkeit. Wir sehnen uns nach der Möglichkeit zur Unterscheidung und nach der Eigentümlichkeit unseres Lebensraums. Wir wollen in Chemnitz unterscheidbar zu anderen Orten leben und das leistet nur Kultur. Kultur schafft Identität.

Deshalb ist es logisch, daß immer mehr Städte und der Deutsche Städtetag fordern, die Kommunen nicht so auszubluten, daß sie Attraktivität und Unverwechselbarkeit verlieren, sie sehen ihre Überlebensfähigkeit im Schutz und in der Weiterentwicklung ihrer kulturellen Angebote begründet. Auch die Ministerpräsidenten in Sachsen und Nordrheinwestfalen fordern den Gestaltungsraum der Kommunen zu schützen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Chemnitz in diesem Chor nicht lautstark mitsingt.

Ein Spar-Tsunami droht unsere Kulturlandschaften zu verwüsten. Städte werden ihr kreatives Millieu und die Chance zu einem ästhetischen Kapitalismus verlieren. Das Problem ist, Sponsoren brechen weg, Stellen müssen abgebaut werden, geschlossene Einrichtungen werden nicht reanimiert werden können, Projekte werden bis zur Langweiligkeit – das heißt bis zum Freitod – heruntergestuft.

Der Deutsche Kulturrat fordert einen Nothilfefond des Bundes als Überbrückungshilfe für kommunale Kulturstrukturen. Dieser Forderung haben sich verschiedene Organisationen angeschlossen. Das sieht fast wie eine Erweiterung der Bundeskulturpolitik aus und erscheint mir deshalb wenig realistisch. Als Teil des „Großen Kulturgeschreis“ ist die Forderung aber sicher nicht falsch.

Überlegungen eigener Kraft – wie das Weimarer Modell einen Kulturförderabgabe , das wir gleich hören werden – finden zu Recht größere Resonanz.

Mittwoch vor 80 Jahren starb durch Freitod der Dichter Wladimir Wladimirowitsch Majakowski. Ich möchte mit einem Zitat von ihm enden:

Um zu lachen, muß man ein Gesicht haben.

Schützen wir das Gesicht von Chemnitz, verhindern wir den Freitod durch weniger oder schlechtere Kultur.

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